Syrische Flüchtlinge im Libanon

Von Nadya Moussa

Laut Kalender war noch Herbst, als ich Ende November 2016 von Frankfurt aus nach Beirut geflogen bin. Hier in Deutschland war gerade die letzte „Hitzewelle“ abgeebbt und der Winter hatte sich auf leisen Sohlen angeschlichen. Ich bin schon in einigen arabischen Ländern gewesen und jedes ist anders, daher wusste ich nicht recht, was mich im Libanon erwarten würde. Ich hatte mich natürlich vorbereitet, Artikel gelesen, Karten studiert und mir aktuelle Informationen zu Politik, Gesellschaft und Kultur des Landes beschafft. Aber auf die Realität kann man sich schwer vorbereiten.

Beirut ist eine wunderschöne, sehr weltoffene, alte und kulturreiche Stadt. Auch dort gibt es Ruinen, neuzeitliche. Trotz aller Anstrengungen, den Bürgern und Touristen ein „normales“ Leben zu ermöglichen, finden sich an vielen Stellen noch die Zeugen des Krieges. Die Stadt liegt direkt am Mittelmeer und erhebt sich in die Berge. Das Wetter war frühlingshaft.

Von Beirut aus sind wir jeden Tag in die Berge gefahren, rauf in die Bekaa-Ebene. Die Fahrt dauert etwa eineinhalb bis zwei Stunden, je nachdem, wie der Verkehr ist. Das Land ist rau und karg, anfangs wachsen noch ein paar Zedern und Sträucher, aber je weiter man die kurvigen Straßen bergauf fährt, desto eintöniger wird die Landschaft, bis schließlich nur noch einfache, zweistöckige Wohnhäuser und Geschäfte die Seiten der zweispurigen Fahrbahn säumen. Kurz vor El Marj, dem neuen Zuhause so vieler Flüchtlinge, tun sich Felder und Ackerflächen auf. Ziegen grasen dort in kleinen Herden. Im Sommer gilt die Bekaa-Ebene als Touristenattraktion – ob das immer noch so ist, weiß ich nicht. Dann muss die Landschaft atemberaubend sein, alles grünt zwischen zwei gegenüberliegenden Bergketten. Hinter der einen liegt das Mittelmeer, hinter der anderen herrscht Krieg, dort liegt Syrien.

Ich bin noch nie an einem so ambivalenten Ort gewesen. Das Erste, das mir aufgefallen ist, ist das weitläufige Gelände. Es wirkte alles so auseinandergepflückt, als wäre es gar keine Stadt: hier mal ein Wohnblock oder eine Villa und dort ein Camp, dazwischen ein Feld. Überall erheben sich Zelte wie kleine Dörfer auf dem Land. Es gibt ein großes Flüchtlingslager, Jarrahiyah, und unzählige kleine. Unzählige deshalb, weil ständig neue dazukommen. Gegenüber des Büros der Stadtverwaltung fand gerade Wochenmarkt auf einem Gelände statt, so groß wie ein Fußballfeld. Arabische Wochenmärkte sind toll. Alles ist frisch und in der Luft liegt der Duft von Obst, Gemüse, Gebäck … und leider auch Benzin. Auf dem Markt kaufen Einwohner, Anwohner und Flüchtlinge ein, sofern letztere es sich leisten können.

Syrischen Flüchtlingen, wie auch anderen wird im Libanon kein Flüchtlingsstatus zuerkannt. Das bedeutet, sie sind auf sich selbst gestellt. Die Regierung duldet sie zwar, unternimmt aber nichts, um sie unterzubringen, zu ernähren, zu kleiden … Über Sinn und Zweck dieser Regelung lässt sich streiten. Dennoch, kaum ein Land hat mehr Flüchtlinge aufgenommen als der Libanon. Und das Land ist arm, Teilen der Bevölkerung geht es nicht viel besser als manchen Flüchtlingen. Natürlich gibt es Finanzspritzen von anderen Staaten, auch für Flüchtlinge. So soll jedes Flüchtlingskind in die Schule gehen können.  Der Plan ist gut gemeint, die Realität sieht anders aus.

Zweck meiner Reise war in erster Linie die Verteilung der Winterhilfe von muslimehelfen. Ich sollte aber auch schauen, was noch möglich ist, wo Bedarf ist, den wir decken können. Und Bedarf ist da, aber ob er unter den gegebenen Umständen jemals gedeckt werden kann? Allein in Al-Marj stößt man auf zahlreiche Hilfsorganisationen, die alle versuchen, zu helfen. Aber wo fängt man an, wenn alles fehlt?

Die erste Verteilung der Winterhilfe fand am Montag, dem 28.11.2016 in dem kleinen Camp Shaher statt, das etwas außerhalb auf einem brachliegenden Feld am Straßenrand aufgeschlagen wurde. Dort leben etwa fünfundfünfzig bis sechzig Familien. Um Shaher führt Stacheldraht herum, etwa eineinhalb Meter hoch. Zwischen der Straße und den ersten Zelten zieht sich eine tiefe Mulde entlang, die von Windeln über Blechdosen und Autoreifen als Auffanglager für alles herhalten muss; Mülltonnen gibt es nicht. Wir stiegen aus dem Wagen und das erste, das uns empfing, war ein kühler Windstoß. Neun Grad in weit offener Ebene im hochgelegenen Plateau hatte ich mir wärmer vorgestellt. Mit dem Lastwagen, auf dem das Brennholz in Säcken aufgestapelt lag, kamen auch die ersten Männer und Frauen, um sich ihr Holz abzuholen. Viele von ihnen sind seit beinahe fünf Jahren auf der Flucht. Ihre Zelte bestehen aus dünnen Holzrahmen, um die Planen nach Patchworkart geworfen sind. Als Tür dient eine einfache Wolldecke, viel hält sie nicht ab. Damit die Planen bei Wind nicht fortgeweht werden, sind einige am Boden mit Steinquadern, Sandsäcken oder Autoreifen befestigt. Einige Zelte stehen auf dem nackten Ackerboden. Da war nichts zwischen der kalten, braunen Erde und den Füßen, die auf ihr gingen. Die meisten Zelte jedoch sind bereits isoliert, auch der Boden ist mit Kies aufgeschüttet und mit einer Betonschicht überzogen, damit der Kies, wenn er sich mit Regenwasser oder Schnee vollgesogen hat, nicht die Matte einnässt.

Man schätzt erst, was man hat, wenn man sieht, was anderen fehlt. Die Verteilung lief anfangs ganz gut, aber dann kam es zu einem Tumult. Mehrere Männer und Frauen riefen wild durcheinander, andere drängten sich von den hinteren Reihen nach vorn. Ich hatte nicht verstanden, worum es ging, und mich ein wenig zurückgezogen. Später wurde ich dann aufgeklärt: ein Missverständnis, was sonst. Was können Menschen dafür, dass sie Menschen sind? Ich mache niemandem einen Vorwurf. Wenn man so viel erlebt hat, wie die meisten der Flüchtlinge, so lange schon keine Perspektive hat und nur so von einem Tag in den nächsten lebt, weil es offiziell keine Arbeit gibt, oder irgendetwas, mit dem man sich die Zeit vertreiben könnte, wer kann ihnen da verdenken, dass jeder an seine Not denkt? Die Familien in Shaher haben früher auch auf dem Land gelebt, um Deir ez-Zor herum. Sie waren Bauern. Umso härter muss es sein, auf dem Acker eines anderen zu leben, für das kleine, ungemütliche Zelt etwa 50,00 $ Miete im Monat an den Landbesitzer zu bezahlen und nichts tun zu können. Um die Situation aufzulockern und auch um uns ein wenig nützlich zu machen, haben wir den Kindern schokolierte Waffeln verteilt. Natürlich wollten auch einige Mütter einen Waffelriegel. Man muss nicht immer nein sagen. Unsere jungen Helfer hatten die Situation stets unter Kontrolle. Manchmal muss man einfach mal zuhören. Und dann dem anderen ganz ruhig erklären, was er nicht verstanden hat.

Am Dienstag ging es erst in den Bekleidungsladen, in dem die für die Winterhilfe berücksichtigten Flüchtlinge ihre Coupons gegen Kleidung eintauschen können. Ein Coupon hat einen Wert von 30,00 $. Das ist nicht viel, es reicht auch nicht. Der Inhaber des Geschäftes ist ein sehr freundlicher Mann, Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig. Natürlich weiß er, dass die meisten, die zu ihm kommen, nichts haben gegen den kalten Winter. Und er kommt ihnen entgegen, so viel er kann. Er reduziert einige Waren für sie, wenn ihr Einkauf leicht über den 30,00 $ liegt, dann gibt er ihn ihnen trotzdem mit. Es ist freilich nicht viel, denn eine warme Jacke kostet bereits 35,00 $, eine Weste 7,00 $ und ein Paar warme Strümpfe 1,00 $. Er beteuert, er würde gerne mehr tun, aber auch er hat eine Familie zu ernähren. Ich glaube ihm. Es ist nicht seine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist.

Später am Tag sind wir in das zweite Camp gefahren, Camp 94 mit etwa siebzehn Zelten. Das Camp ist ganz neu. Den Familien, die dort leben, gefiel der Name und sie haben ihn behalten. Es gibt so Vieles, das wir uns nicht vorstellen können, bis wir es sehen. Vier, fünf Frauen saßen vor einem der hinteren Zelte und kochten an einem offenen Feuer das Mittagessen. Vor den Zelten standen Toilettenhäuschen, mit dem Rücken zum Camp. Es gab kein Licht und wenn man einen falschen Schritt getan hätte, wäre man in den Graben vor dem Acker gestolpert. Vor einem der hinteren Zelte ist auf dem kurzen Weg zum WC ein Steinweg ausgelegt. Der Familienvater ist an einen Rollstuhl gebunden und seine Frau wollte ihm sein Schicksal etwas erleichtern. Sie hat ihm allein Steine auf den Weg gelegt. Die Zelte waren nicht wirklich ausgestattet. Eine Matte lag auf dem Boden und dämpfte ein wenig die Kälte ab, manchmal auch ein Teppich. Als Bett dienen dünne Matratzen. Ein Heizofen stand versteckt unter Decken an einer Zeltwand, ein kleiner Nebenraum diente als eine Art Küchennische. Ich bin selten freundlicheren Menschen begegnet. Sie strahlten so viel Wärme aus und jeder hatte ein Lächeln für uns. Ein junger Mann meinte, er hatte nicht glauben wollen, dass wir wiederkommen, weil viele kommen und sagen, sie helfen, aber dann wegbleiben. Auch das kommt vor. Im Camp liefen ganz viele Kinder aufgeregt hin und her, andere versteckten sich hinter den Beinen ihrer Mütter oder Tanten. Kaum eines der Kinder hatte Schuhe und niemand im Camp hatte Winterkleidung. Die Erwachsenen trugen Plastikschlappen, die schon kaputt waren. Es sind erstaunlich viele junge Frauen dort. Ich habe mich gefragt, was aus ihnen wird. Als ich so alt war wie sie, hatte ich mich gerade auf mein Abitur vorbereitet, den Kopf voller Pläne und Träume. Auch sie haben Träume. Und es zerreißt mir das Herz, wenn ich an die Zukunft denke.

Am Abend sind wir nach Jarrahiyah gefahren. Die Sonne war bereits untergegangen und das einzige Licht kam vom Scheinwerfer des Wagens. Eines der ersten Zelte ist ein kleiner Kiosk, wo man sich von Schokoladenriegeln bis Zeitschriften einiges kaufen kann. Je weiter wir in das Camp eingedrungen sind, desto bedrückender wurde es. Die Zelte scheinen zweistöckig zu sein, viele haben Überbauten, für die Tauben und Hühner, die dort gehalten werden. Auf dem Boden liegen Kabel, die aus den Zeltplanen herausragen. Licht bot uns das erleuchtete Display der Handys. Wer hier nach Sonnenuntergang unterwegs ist, geht gefährlich. Die Kinder gehen nachmittags zur Schule und kommen am Abend nach Hause. Theoretisch besteht zwar für alle Flüchtlingskinder die Möglichkeit zur Schule zu gehen, aber viele wissen noch nichts davon. Aus Shaher geht kein Kind zur Schule.

Am Mittwoch, dem 30.11.2016 sind wir nach Hassaneen gefahren. Man könnte Hassaneen einen Stadtteil von Al Marj nennen. Den Namen hat es von der Moschee, die dort gebaut wird. Die meisten der Flüchtlinge dort leben in zweistöckigen Wohnhäusern, Rohbauten, die weder isoliert noch verputzt sind und lediglich aus Stein und Zement bestehen. In den Fenstern ist kein Glas, Plastik soll Wind und Regen abhalten. Mehrere Familien leben in diesen paar Häusern. Eine Familie teilt sich ein Zimmer, manchmal auch zwei Familien. Sie sind entweder miteinander verwandt oder waren Nachbarn in ihrem Heimatort aus der Nähe von Homs. Die meisten sind Frauen mit Kindern. Jarrahiyah ist gefährlich, vor allem für Mädchen. Dort gibt es häufig Streit, die Männer wissen nichts mit sich anzufangen. Das liegt nicht am arabischen Blut, sondern an der Situation. In Jarrahiyah lebt man auf engstem Raum miteinander. Dort kann man sich nicht wohlfühlen. Junge Familien und Frauen, deren Männer gestorben, inhaftiert oder vermisst sind, verlassen Jarrahiyah. Sie finden dort keinen Schutz. In den Häusern, wie in Hassaneen, schauen Hilfsorganisationen in der Regel nicht nach, sagt man uns. Zumindest aber haben sie dort das buchstäbliche Dach über dem Kopf. Pro Zimmer zahlt eine Familie etwa 300,00 $ im Monat. Wer in Syrien zum Mittelstand gehörte, hat sein Hab und Gut über die Grenze mitgenommen und verkauft langsam aber sicher, alles, was sich verkaufen lässt. Doch irgendwann ist auch diese Quelle versiegt. Um sich ein wenig selbst zu versorgen, halten viele Familien Hühner und züchten Tauben, andere haben einen kleinen Garten angelegt. Die Hühner sollen eigentlich Eier legen, aber die letzten, die in Hassaneen geschlüpft sind, sind alle männlich.

Gegen Mittag zog ein Sturm auf. Die Berge waren von keiner Seite mehr zu sehen. Die Wolken wurden immer dunkler und es begann zu regnen. Da die Straßen zwischen den Zelten und die Wege vor den Häusern nicht asphaltiert sind, stampften wir durch Matsch und Pfützen. Zurück in Shaher warteten wir auf den ersten Laster, der den Kies geladen hatte. Eigentlich hätte der Boden des Camps bereits am Montag mit Kies aufgeschüttet werden sollen, aber eine Straße war gesperrt worden. Mit Eintreffen des Lasters war ich aus dem Wagen ausgestiegen, um Fotos zu schießen. Neben mir hinter dem Zaun wurde es langsam unruhig. Einer der Helfer bedeutete mir dann, mich umzudrehen, was ich auch tat. Am Zaun standen zehn bis zwölf Kinder, die mir aufgeregt und strahlend zuwinkten. Viele von ihnen verstehen gar nicht, was eigentlich los ist.

Man sagt immer, die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber manchmal stirbt sie tatsächlich. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen alle unser Bestes geben, uns gegenseitig zu helfen. Egal wem und aus dem einfachen Grund, weil wir alle Menschen sind und uns gegenseitig brauchen.

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