Die Begünstigten bedanken sich

Tagsüber hatte ich lange im Auto gesessen, deshalb wollte ich am Abend noch einen Spaziergang machen und mir die Beine vertreten. Die Sonne war längst untergegangen, der Himmel tiefschwarz, aber kaum wahrzunehmen, denn die Straßenbeleuchtung überstrahlte das Dunkel. Nur wenn man stehen blieb, den Blick weit nach oben hob und Ausschau hielt, begannen sacht die Sterne zu funkeln. Es ist kalt in Kazan. Schon in der vergangenen Nacht hatte es gefroren, und auch jetzt schlägt mir die Kälte ins Gesicht. Ich ziehe die Mütze über die Ohren und stelle den Jackenkragen hoch. Handschuhe habe ich nicht dabei, also versuche ich, die Hände in die Ärmel zu ziehen. Das hilft für eine kurze Weile, doch bald spüre ich, wie die eisige Luft hereinkriecht.

Kazan mit etwa 1,2 Millionen Einwohnern ist etwa so groß wie München und Hauptstadt der Republik Tatarstan, früher zur Sowjetunion gehörig, heute zur Russischen Föderation. Beide, die Stadt und die Republik, sind nicht arm. Aber es ist hier wie anderswo auch: Die Bessergestellten sind wenige, die anderen sind mehr. Am Vormittag war ich im Bezirk Mamadysch unterwegs gewesen, zwei Stunden Autofahrt von Kazan entfernt. In einem kleinen Dorf mit Namen Kamski Leschoz, ein paar Kilometer vom großen Fluss Kama, steht ein Gebäude, das zur Sowjetzeit als Kultur- und Jugendhaus für die Anwohner diente. Heute ist es mehr Ruine als Gebäude, denn in der Zeit nach dem Wandel galt das Staatseigentum als herrenlos und jeder, der meinte, er könne etwas gebrauchen, nahm sich, was ihm gefiel. Immerhin, die Mauern stehen noch, auch wenn Türen, Fenster und die gesamte Inneneinrichtung fehlen, Kabel und Rohre entwendet sind und das Dach an mehreren Stellen undicht ist.

Aus diesem Gebäude soll, so habe ich erfahren, ein Pflegeheim für Kinder werden, Kinder, die an Krebs erkrankt sind. Es gehört Mut dazu, sich das vorzustellen, viel Mut. Aber daran scheint es dem kleinen Team von „Radost Detstva“ nicht zu fehlen. Ihnen fehlt nur das nötige Geld, um den Traum zu verwirklichen. Sie haben mir ihre Geschichte erzählt. „Radost Detstva“ heißt auf Deutsch so etwas wie „Freude in der Kindheit“ oder ungefähr „Freudige Kindheit“.

Befreundete Geschäftsleute, Tataren und Russen, hatten einen Verwandten, der an Krebs erkrankt war und nach längerem Krankenhausaufenthalt schließlich starb. Es gibt sehr viele Krebserkrankungen in Kazan, wird mir gesagt, auffällig viele in letzter Zeit. Warum weiß man nicht, so heißt es. Oder will man es vielleicht nicht wissen? denke ich. Bei den Besuchen im Krankenhaus haben sie andere Krebspatienten und deren Familien kennengelernt. Es waren viele Kinder darunter, und die meisten Familien überfordert, die kostspielige Behandlung zu finanzieren. Wer es sich leisten kann, bringt sein Kind ins Ausland, aber für die meisten ist das unerschwinglich. Wie also könnte man die Kosten senken, um auch weniger wohlhabenden Familien die Möglichkeit zu bieten, ihren krebskranken Kindern zu helfen?

Es stellte sich heraus, dass der andauernde Aufenthalt im Krankenhaus für viele Kinder nicht notwendig ist, wenn die Behandlung erst einmal eingeleitet wurde. Bei entsprechender Betreuung und unter medizinischer Kontrolle könnten die Kinder zu günstigeren Konditionen und in gesünderer Umgebung als in der Großstadt auf dem Land in einem Pflegeheim untergebracht und versorgt werden. Also machte man sich auf die Suche und wurde schliesslich in Kamski Leschoz fündig. Das ehemalige Kultur- und Jugendhaus, oder besser gesagt, das, was davon übrig ist, wurde ihrem Kinderhilfswerk „Radost Detstva“ samt Grundstück kostenlos überlassen. Instandsetzung, Einrichtung und Betrieb stehen nun an. Es ist nicht abzusehen, wie lange das alles dauern wird und was es kosten soll. Doch „Radost Detstva“ sammelt seither mit viel Engagement und noch mehr Mut Spenden für das Projekt. Ich habe es mir angesehen, um festzustellen, ob auch muslimehelfen etwas dazu beitragen kann. Das lässt sich heute noch nicht entscheiden. Es wird vom Fortgang der Sache abhängen.

Das Nachmittagsgebet hatte ich in der Al-Mardschani-Moschee verrichtet, der ältesten erhaltenen Moschee von Kazan, erbaut 1767. Die früheren Moscheen Kazans wurden alle zerstört. Im nahegelegenen Kaban-See, so heißt es, haben die Tataren ihren Schatz versenkt, als vor 460 Jahren die Russen am 2./15. Oktober 1552 unter Iwan dem Schrecklichen die Stadt eroberten. Viele haben seither danach gesucht, doch niemand hat bisher etwas gefunden. Noch immer soll der Schatz im Wasser verborgen sein. Wenn niemand den Schatz gefunden hat, so kommt es mir in den Sinn, hat man sich da vermutlich geirrt und deshalb immer an der falschen Stelle gesucht. Der Schatz der Tataren von Kazan, so denke ich, liegt gar nicht mitten im tiefen See, sondern vielmehr an seinem Ufer. Der wahre Schatz der Tataren von Kazan ist die Moschee mit der ihr angeschlossenen Schule, wo heutzutage wieder der Gebetsruf zu hören ist, wo wieder gebetet wird und junge Menschen den Islam studieren.

Damals, als die tatarischen Muslime die Erlaubnis erhielten, die Al-Mardschani-Moschee zu erbauen, beschwerte sich die Stadtverwaltung bei der Zarin Katharina darüber, das Minarett sei zu hoch geworden. Die Antwort der Zarin soll gewesen sein: „Ich habe ihnen einen Platz auf der Erde angewiesen, doch sie können zum Himmel hinaufgehen so weit sie wollen, da der Himmel nicht zu meinem Besitztum gehört.“ Davon könnte sich noch heutzutage manche Baubehörde hierzulande ein Stück abschneiden …

Es ist kalt in Kazan. Ich mache mich auf den Rückweg. Die Nacht darf ich in einem warmen Zimmer verbringen, ich werde wohl nicht frieren. Tausenden und Abertausenden Menschen geht es anders. Sie haben keine warmen Zimmer, oft nicht einmal ausreichend warme Kleidung. Tschetschenien fällt mir ein, dort unterstützt muslimehelfen seit mehreren Jahren ein Winterhilfeprojekt mit der Partnerorganisation „Doverije“. Alten und bedürftigen Menschen wird ein Brennholzvorrat geliefert, damit sie den Winter überstehen. Auch für den jetzigen Winter ist dieses Programm angelaufen. Zusätzlich will muslimehelfen Winterkleidung an arme Menschen ausgeben. Dafür vorgesehen sind neben Bergdörfern in Tschetschenien auch Orte im Norden von Pakistan und die Stadt Kazan mit ihrer Umgebung. Hier soll „Radost Detstva“ Winterkleidung an bedürftige Kinder verteilen. Bis das große Projekt, das Pflegeheim für die krebskranken Kinder, verwirklicht werden kann, vergeht wahrscheinlich noch eine geraume Zeit. Aber das bedeutet ja nicht, dass man bis dahin nur abwartet. Bedürftige Kinder mit warmer Winterkleidung zu versorgen, ist auch eine von vielen Möglichkeiten, Gutes zu tun.

Und noch etwas: Beim Aufräumen fiel mir eine alte Fotokopie in die Hände, von einem Brief ohne Datum. Es dürfte sich indes um das Jahr 1992 handeln, denn damals hatte ich Briefkontakt mit dem Absender Iljas Gainutdinov, der mir die Übersetzung der folgenden Mitteilung schickte: „Gesundheitsverwaltung der Stadt Kasan dankt Ihnen für Ihre Hilfe. Die Medizin … ist dem Krebskrankenhaus übergegeben. Wir wünschen Ihnen Gesundheit, Wohlstand, Erfolge in allen Euren Taten. Herzliche Grüsse. Stellvertretender Leiter/Chef des Gesundheitswesens der Verwaltung R.U. Muhamedova.

Iljas Gainutdinov war seinerzeit Deutschlektor an der Universität in Kazan, heute arbeitet er im Bildungsministerium. Ja, ich hatte das völlig vergessen. Auf eine Bitte aus Kazan hin konnte ich für die Zusendung von Medikamenten sorgen. Zwanzig Jahre ist das her, schon damals Krebs und heute noch immer …

Da möchte man sich fragen: Ändert sich denn gar nichts? Nein, es ändert sich nichts – Bedürftige und Menschen in Not wird es immer geben, und andere, die helfen wollen und helfen, wenn sie können, ebenso. Packen wir es an, bismillah!

Ahmad von Denffer

Es ist kalt in Kazan …

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